print preview

Hyperschall-Gleitflugkörper

Im Dezember 2019 kündigte Russland die Inbetriebnahme eines neuen Waffensystems an, des Hyperschall-Gleitflugkörpers Awangard. Dieser Gleiter sei so schnell und agil, dass die üblichen Raketenabwehrmittel keine Chance gegen ihn hätten. Die Nachricht sorgte in vielen Militärstäben für Aufregung. Doch worum geht es dabei? Wie fliegt ein Hyperschall-Gleitflugkörper überhaupt? Und entsprechen diese Flugkörper einem revolutionären Waffensystem, wie oft behauptet? Ein Überblick.

André Koch, ehemals Forschungsmanagement und Operations Research, armasuisse Wissenschaft und Technologie

Ein Hyperschall-Modell
Ein Modell eines Hyperschall-Gleitfliegers

Verschiedene militärische Systeme bewegen sich im Hyperschallbereich – also der 5-fachen Schallgeschwindigkeit. Daher werden sogenannte Hyperschall-Gleitflugkörper in militärischen Kreisen zum Teil als revolutionäres Waffensystem angesehen. Obschon solche Systeme aufgrund ihrer Geschwindigkeit schwieriger zu detektieren sind, legen Hyperschall-Gleitflugkörper keine grundlegenden neuen technischen Lösungen dar.

Das Thema Hyperschallflug geht auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs zurück. Der deutsche Wissenschaftler Eugen Sänger entwarf Ende der 1930er-Jahre ein Flugzeug, den Silbervogel, das mit einer Höchstgeschwindigkeit von 6‘000 Metern pro Sekunde mehr als 20‘000 Kilometer zurücklegen können sollte. Der Silbervogel kam jedoch nie über das Zeichenbrett hinaus. Später, in den 50er-Jahren, wurden diese Arbeiten wieder aufgenommen, um den sicheren Wiedereintritt von Raumfahrzeugen in die Atmosphäre zu er­mö­glichen. Anwendungen gab es in zivi­len Gebieten – beispielsweise mit dem Space Shuttle – sowie in militärischen Bereichen, etwa mit Interkontinentalraketen.

In Dezember 2019 kündigte dann Russland an, dass ein neues Waffensystem, der Hyperschall-Gleitflugkörper Awangard, der Truppe übergeben wurde. Fast zeitgleich gab China bekannt, dass es mit dem WU-14 über ein ähnliches System verfüge. Was sind eigentlich diese Hyperschall-Gleitflugkörper und was meint man mit Hyperschall?

Hyperschall

Die Geschwindigkeit einer Schallwelle in der Luft hängt von der Temperatur ab. Bei 15 Grad Celsius auf Meereshöhe breitet sich der Schall mit 340 Metern pro Sekunde aus; steigt man auf 11‘000 Metern Höhe, sinkt die Temperatur auf -56,4 Grad Celsius und die Schallgeschwindigkeit verringert sich auf 295 Meter pro Sekunde.

Bewegt sich ein Objekt schneller als die lokale Schallgeschwindigkeit, spricht man von Überschall. Überschreitet der Körper das Fünffache der Schallgeschwindigkeit – also 1‘700 Meter pro Sekunde auf Meereshöhe bzw. 1‘475 Meter pro Sekunde auf 11‘000 Metern Höhe – wird die Bewegung als Hyperschall bezeichnet. Verschiedene militärische Systeme bewegen sich im Hyperschallbereich. Darunter findet man die ballistischen Raketen, gewisse Marschflugkörper und die sogenannten Hyperschall-Gleitflugkörper. Die letztgenannten Systeme interessieren uns hier.

Hyperschall-Gleitflugkörper

Ein Hyperschall-Gleitflugkörper ist ein Gleiter: er hat kein eigenes Antriebssystem und wird mithilfe einer Rakete in über 100 Kilometern Höhe gebracht. Nach Trennung von der Trägerrakete kommt er im Gleitflug auf den Boden zurück. In grosser Höhe bewegt sich ein Hyperschall-Gleitflugkörper mit anfänglich mehr als 6‘000 Metern pro Sekunde. Diese Geschwindigkeit übersteigt bei weitem die von üblichen Flugzeugen.

Um den Flug eines Hyperschall-Gleitflugkörpers in verschiedenen Szenarien zu untersuchen und zu berechnen, hat armasuisse Wissenschaft und Technologie ein computergestütztes Modell entworfen: Der untersuchte Flugkörper hat eine Spannweite von 2.3 Metern, ist 3.75 Meter lang und wiegt 1.5 Tonnen. Seine Nutzlast liegt bei 500 Kilogramm und könnte aus einem nuklearen Gefechtskopf oder einer konventionellen Sprengladung bestehen.

Der Hyperschall-Gleitflug

Der Gleiter wird mithilfe einer Träger­rakete in grosser Höhe gebracht. Die Dimensionen und das Gewicht des Gleiters sind durch die Eigen­schaften der Trägerrakete begrenzt. Von der Abschussrampe bis zum Ziel besteht der Flug des Hyperschall-Gleitflugkörpers aus zwei Phasen, nämlich der Startphase gefolgt vom Gleitflug.

Die Startphase. Der Hyperschall-Gleitflugkörper sitzt an der Spitze einer Trägerrakete, zum Beispiel eine dreistufige Rakete Minotaur IV Lite, die eine Nutzlast von 1.5 Tonnen auf 125 Kilometern Höhe bringen kann. Die Startphase dauert vom Abheben der Rakete bis zum Freisetzen des Hyperschallgleiters ungefähr drei Minuten. Der Gleiter bewegt sich dann mit circa 6‘000 Metern pro Sekunde parallel zur Erdoberfläche.

Der Gleitflug. Ab dann, wenn sich der Hyperschall-Gleitflugkörper von der Trägerrakete ablöst, ist er im Gleitflug. In über 70 Kilometer Höhe ist die Luft so dünn, dass der Gleiter – trotz seiner enormen Ge­schwin­digkeit von 6'000 Metern pro Sekunde – über fast keinen aerodynamischen Auftrieb ver­fügt; er befindet sich sozusagen im freien Fall und verfolgt einen sinkenden Pfad. Da die Luft­dichte in den tieferen Schichten der Atmosphäre zunimmt, wachsen Luftwiderstand und aerodynamischer Auftrieb. Irgendwann ist Letzterer genug gross, sodass sich der Hyperschall-Gleitflugkörper horizontal bewegen oder sogar steigen kann.

Damit der Gleiter möglichst weit fliegt, muss die Flugbahn so gewählt werden, dass der Luftwiderstand im Durchschnitt so klein bleibt wie möglich. Eine interessante Lösung hierfür ist, den Gleiter auf den dichteren Schichten der Atmo­sphäre «hüpfen» zu lassen. Solch eine Flugbahn ist in Abbildung 5 (siehe Broschüre) dargestellt; das abgebildete Wellenprofil der Flugbahn ist charakteristisch für Hyperschall-Gleitflüge: So wie die Hüpfer eines flachen Kieselsteins auf der Wasseroberfläche ihn weit bringen, so vergrössert ein Hyperschall-Gleitflugkörper die Reichweite seines Flugs mit Sprüngen über die unteren Schichten der Atmosphäre.

Der Hyperschall-Gleiter ist manövrierfähig, sofern die aerodynamischen Kräfte – und die daraus resultierenden Beschleunigungen – genügend gross sind. Aus Abbildung 5 (siehe Broschüre) wird klar, dass dies nur unterhalb von circa 70 Kilometer Höhe der Fall ist. Weiter oben ist die Luft zu dünn, um wesentliche aerodynamische Kräfte zu erzeugen, sodass Flugmanöver nicht möglich sind.

Eine Herausforderung des Hyperschall-Flugs

Da der Gleiter sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegt, bildet sich ein sogenannter Mach-Kegel um ihn: Eine Schockwelle entsteht, welche von der Spitze des Gleiters ausgeht. In dieser Schockzone wird die Luft stark komprimiert, was ihre Temperatur steigen lässt. Bei einer Geschwindigkeit von 6‘000 Metern pro Sekunde kann die Temperatur an der Spitze und an den Flügelkanten des Flug­objekts 1‘000 Grad Celsius deutlich überschreiten. Damit der Gleitflugkörper diese Tempera­turen aushält, sind spezielle hitzebeständige Beschichtungen seiner Spitze, seiner Kanten und seiner unteren Tragfläche notwendig.

Ausserdem ist es von Vorteil, eine Flugbahn zu wählen, entlang welcher sich Aufwärmphasen mit Abkühlungsphasen abwechseln. Hier wird deutlich, dass eine wellenartige Flugbahn von Vorteil ist. Zwar erwärmt sich der Gleiter beim Hüpfen aufgrund der erhöhten aerodynamischen Kräfte in tieferen Flughöhen; der anschliessende Flug in grösseren Höhen ermöglicht dann aber eine Abkühlung, da die aerodynamischen Kräfte wieder bedeutend abnehmen.

Der Hyperschall-Gleitflugkörper: Eine revolutionäre Waffe?

Bewerten wir abschliessend einige Behauptungen über Hyperschall-Raketen kritisch.

  • Hyperschall-Gleitflugkörper manövrieren sich an den Luftabwehrsystemen vorbei. Diese Behauptung stimmt nur teilweise. Wir haben festgelegt, dass aerodynamische Manöver nur unterhalb von 70 Kilometern Höhe möglich sind; höher verfolgt der Hyperschall-Gleitflugkörper eine voraussehbare elliptische Flugbahn, ohne Möglichkeit die Flugrichtung zu ändern, falls er durch ein Abwehrsystem angegriffen wird. Zusätzlich bedingt jedes Flugmanöver einen Abfall der Geschwindigkeit und damit der Reichweite.
  • Ein Hyperschall-Gleitflugkörper erreicht sein Ziel mit einer Geschwindigkeit von 2‘000 Metern pro Sekunde oder mehr. Die Aussage ist falsch. Wenn der Hyperschall-Gleitflugkörper durch die unteren Schichten der Atmosphäre auf sein Ziel fliegt, wird er durch den Luftwiderstand heftig abgebremst. In der Endphase des Flugs wird die Geschwindigkeit des Gleiters – sogar mit einem steilen Sturzflug – 1‘000 Metern pro Sekunde nicht übersteigen.
  • Ein Hyperschall-Gleitflugkörper ist für Radarsysteme undetektierbar. Die Aussage ist nur teilweise wahr. Boden-Radarstationen sind in der Lage, kleine Flugkörper auf 300 Kilometer zu detektieren. Höchst wahrscheinlich kann jedoch der Verlauf der Flugbahn nicht bestimmt werden, weil die meisten heutigen Radarsysteme das Tracking eines Objekts nur für Geschwindigkeiten unter 1’000 Metern pro Sekunde gewährleisten.
  • Klassische Abwehrraketen sind gegen Hyperschall-Gleitflugkörper unwirksam. Diese Behauptung stimmt teilweise. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit und der geringen Abmessungen des Gleitflugkörpers ist es für herkömmliche Boden-Luft-Abwehrmittel schwierig, aber nicht unmöglich, einen Hyperschall-Gleitflugkörper zu bekämpfen. Eine zusätzliche Herausforderung kommt noch dazu: Nur wenige Boden-Luft Abwehrraketen sind in der Lage, Objekte in mehr als 50 Kilometern Höhe zu bekämpfen; neue Lösungsansätze für Abwehrmassnahmen sind also notwendig.

All dies zeigt einerseits, dass Hyperschall-Gleitflugkörper keine grundlegend neuen technischen Lösungen darlegen und dass ihre Eigenschaften oft übertrieben werden. Andererseits gilt: Je schneller sich ein Objekt bewegt, desto schwieriger sind dessen Detektion und Bekämpfung. Daher ist es unerlässlich, die Entwicklung von Hyperschall-Gleitflugkörpern mit einem kritischen Blick zu verfolgen. Mit diesem Thema werden sich daher die Expertinnen und Experten von armasuisse auch in Zukunft noch beschäftigen.